Der Begriff der Synodalität hat in der römisch-katholischen Kirche in den letzten Jahren eine beispiellose Aufwertung erfahren. Insbesondere unter Papst Franziskus avancierte die Synodalität zu einem Schlüsselkonzept kirchlichen Selbstverständnisses. In einer Zeit wachsender kirchlicher Krisen – vom massiven Vertrauensverlust aufgrund von Missbrauchsskandalen über den Rückgang von Mitgliedschaften bis hin zu internen Spannungen über Lehre und Struktur – setzt Franziskus nicht auf autoritäre Rückgewinnung von Kontrolle, sondern auf einen spirituellen Weg der gemeinsamen Unterscheidung. Synodalität ist dabei keine rein organisatorische Maßnahme, sondern Ausdruck einer ekklesiologischen Vision: die Kirche als wanderndes Volk Gottes auf dem Weg durch die Geschichte.
Was bedeutet Synodalität? Begriffliche und historische Klärung
Das Wort Synode stammt vom griechischen συν-οδος (syn-hodos), was so viel bedeutet wie „gemeinsamer Weg“. Es bezeichnet ursprünglich das Zusammenkommen von Bischöfen, später auch von Klerikern und Laien, zur Beratung und Entscheidung über kirchliche Angelegenheiten. Im engeren Sinne versteht man unter einer Synode ein offizielles Gremium zur Meinungsbildung und gegebenenfalls Beschlussfassung, etwa in Diözesen, auf nationaler Ebene oder in Rom (Bischofssynode).
Im weiteren Sinne, und in diesem Sinne spricht Franziskus, bezeichnet Synodalität eine Grundhaltung kirchlichen Lebens: das gemeinsame Hören auf das Wort Gottes, das Ringen um den Willen Gottes inmitten einer komplexen Wirklichkeit, die Einbindung des ganzen Gottesvolkes in Prozesse der Unterscheidung und Leitung. Synodalität meint also nicht bloß Strukturen, sondern eine spirituelle und ekklesiologische Praxis, die im Wesen der Kirche selbst verankert ist.
Historisch ist die Kirche seit der frühen Christenheit synodal verfasst. Bereits im Neuen Testament finden sich Spuren gemeinsamer Entscheidungsprozesse (z. B. das Apostelkonzil in Apg 15). In der alten Kirche waren Synoden ein zentrales Mittel zur Klärung von Lehre und Disziplin. Erst im Laufe der Geschichte wurde Synodalität zunehmend zugunsten eines monarchisch-päpstlichen Modells verdrängt, insbesondere seit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870) mit der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) versuchte eine Balance zwischen päpstlicher Autorität und kollegialem Miteinander, ohne jedoch Synodalität als solche systematisch zu entfalten. Diese theologische Leerstelle beginnt Franziskus nun zu füllen.
Die Theologie der Synodalität bei Papst Franziskus
Für Papst Franziskus ist Synodalität keine pragmatische Antwort auf Krisen, sondern ein Ausdruck der Wesensstruktur der Kirche. In seiner Ansprache zum 50-jährigen Bestehen der Bischofssynode (2015) nannte er Synodalität „die Dimension, die mehr als jede andere das kirchliche Leben und die Sendung charakterisiert“. In diesem Sinn ist Synodalität nicht etwas, das die Kirche „hat“, sondern etwas, das sie „ist“.
2.1 Das Volk Gottes als theologischer Ausgangspunkt
Franziskus greift einen zentralen Begriff des Zweiten Vatikanischen Konzils auf: die Kirche als Volk Gottes. Das bedeutet theologisch, dass alle Getauften Anteil am sensus fidei, am „Glaubenssinn“ des Volkes Gottes, haben. Wahrheit ist nicht exklusives Gut des Lehramts, sondern entfaltet sich in der lebendigen Erfahrung des ganzen Volkes, begleitet und geordnet durch das Lehramt. Synodalität ist damit eine Form, diesen Glaubenssinn konkret werden zu lassen – durch Zuhören, Austausch, geistliche Unterscheidung.
2.2 Dreifache Dimension der Synodalität
Franziskus unterscheidet in seiner Theologie drei Ebenen von Synodalität:
– Auf der Ebene des Volkes Gottes: Synodalität beginnt mit dem Hören auf alle. Jede Stimme zählt. Deshalb sind Umfragen, Konsultationen, Versammlungen integraler Bestandteil des synodalen Prozesses.
– Auf der Ebene der Bischöfe: Die Bischöfe sind nicht Herren, sondern Hirten, die mit und aus dem Volk heraus führen. Ihre Autorität wird nicht abgeschafft, sondern in den Dienst des Ganzen gestellt.
– Auf der Ebene des Bischofs von Rom: Der Papst ist „Garant der Einheit“, nicht der einsame Entscheider. Seine Rolle besteht darin, den synodalen Prozess zu schützen, nicht zu dominieren.
Wie wird Synodalität konkret gelebt?
3.1 Der weltweite synodale Prozess (2021–2024)
Seit 2021 läuft unter dem Titel Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung ein historisch einzigartiger weltkirchlicher Prozess. Alle Ortskirchen wurden eingeladen, sich an einer breiten Konsultation zu beteiligen. Themen wie Machtstrukturen, Rolle der Frau, Sexualmoral, partizipative Leitungsmodelle oder Inklusion wurden auf breiter Basis diskutiert.
Wichtig ist: Der Prozess ist kein kirchliches „Referendum“, sondern eine geistliche Unterscheidung, die vom gemeinsamen Gebet, vom Hören aufeinander und auf den Heiligen Geist geprägt ist. Es geht nicht darum, dem Zeitgeist zu folgen, sondern die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten.
3.2 Demokratische Elemente in der katholischen Kirche
Zwar ist die römisch-katholische Kirche kein demokratisches System im politischen Sinne. Dennoch lassen sich demokratische Elemente finden, insbesondere dort, wo Partizipation, Deliberation und Repräsentation Raum gewinnen. Dazu gehören:
– Diözesan- und Pastoralräte: Gremien aus Klerikern und Laien, die das kirchliche Leben mitgestalten.
– Bischofssynoden: Versammlungen von Bischöfen, die gemeinsam mit dem Papst beraten.
– Ordensversammlungen: Viele Orden kennen demokratische Entscheidungsstrukturen.
– Wahlen: Bischöfe und Päpste werden in bestimmten Kontexten gewählt (z. B. im Konklave durch das Kardinalskollegium).
Franziskus fordert keine Transformation der Kirche in ein demokratisches Parlament, aber er betont, dass der Heilige Geist auch durch kollektive Prozesse wirkt – und dass Autorität nur dann glaubwürdig ist, wenn sie sich mit der Stimme des Volkes Gottes verbindet.
Synodalität als kulturelle und spirituelle Herausforderung
Synodalität ist nicht konfliktfrei. Franziskus ist sich bewusst, dass der Prozess mühsam, voller Spannungen und innerkirchlicher Widerstände ist. Dennoch bleibt er überzeugt, dass es kein Zurück gibt. Die Kirche müsse lernen, zu debattieren, ohne sich zu spalten. Uneinigkeit sei kein Skandal, sondern Teil eines lebendigen Prozesses. Synodalität bedeutet also nicht Harmonie auf Knopfdruck, sondern das theologisch anspruchsvolle Aushalten von Differenz im Vertrauen auf den Geist Gottes.
Diese Haltung hat auch Auswirkungen auf die Kirchenleitung selbst. Papst Franziskus hat immer wieder betont, dass die Kurie, die Bischofskonferenzen und die Leitungsgremien reformiert werden müssen – nicht nur strukturell, sondern geistlich. Leitungsverantwortung sei kein Privileg, sondern ein Dienst. Und dieser Dienst könne nur glaubwürdig sein, wenn er transparent, rechenschaftspflichtig und in Beziehung zum Volk Gottes steht.
Synodalität ist das zentrale Reformprojekt des Pontifikats von Papst Franziskus – nicht als Strukturreform allein, sondern als Ausdruck einer neuen geistlichen Haltung. Sie steht für eine Kirche, die nicht von oben herab diktiert, sondern gemeinsam unterwegs ist. Sie ist Ausdruck eines Glaubens, der sich in Beziehung vollzieht – zum Wort Gottes, zueinander, zur Welt. In der Theologie von Franziskus ist Synodalität keine Option unter vielen, sondern der Weg der Kirche schlechthin. Es ist ein Weg, der Offenheit verlangt, Demut, geistliche Tiefe – und die Bereitschaft, neu zu lernen, was es heißt, Kirche zu sein.