Was kann man aus der Europawahl lernen? 10 Konsequenzen

Europäisches Parlament in Brussel, Foto: Stefan Groß

Ganz langsam verzieht sich der Pulverdampf nach der Europawahl und die ersten Umrisse der neuen Gestaltung Europas tauchen auf:

  1. Das Spitzenkandidatenprinzip wurde zwar zum 2. Mal bei einer Europawahl praktiziert, allerdings dieses Mal ohne Erfolg! Damit ist es aber überhaupt nicht tot, sondern wird ziemlich wahrscheinlich bei der nächsten Europawahl 2024 in anderer und dann in offiziell legalisierter Form »eingeführt« werden.
  2. Die Wahl der neuen Kommissionspräsidentin machte überraschende, ja erstaunliche politische Unterstützungs- und Ablehnungslinien sichtbar: Deutsche SPD-Abgeordnete stimmten gegen die „eigene deutsche“ Kandidatin und „populistische“ Abgeordnete aus Osteuropa unterstützten die Kandidatin einer anderen Nation. Hier zeigt sich – wahrscheinlich sogar ungewollt – eine in die Zukunft weisende Europäisierung bei Personalentscheidungen.
  3. Die Berichterstattung in den europäischen Medien über Inhalte und Personen der europäischen Ebene ist um ein Vielfaches detaillierter und umfangreicher geworden als bei allen Wahlen vorher. Es hat so etwas wie der Start einer europäischen Öffentlichkeit stattgefunden.
  4. Populistische Parteien und Bewegungen in den einzelnen europäischen Ländern machen häufig mit dem Argument Wahlkampf, »unsere Nation muss auf der wichtiger werdenden europäischen Ebene unüberhörbar vertreten werden«! Also Bürger wählt unsere Kandidaten, die auch in Brüssel lautstark »auf die Pauke hauen«.
  5. Der Lernprozess, additiv zur nationalen Souveränität auch eine europäische Souveränität als sinnvoll und notwendig zu akzeptieren, hat gerade erst begonnen und fällt vielen Bürgern außerordentlich schwer. Aber nach dieser Wahl scheint er nicht mehr utopisch oder gar unmöglich zu sein.
  6. Die europäische Ebene hat sich als normale, ja unverzichtbare Dimension in der politischen Realität des 21.Jahrhundert verfestigt. Nach der Erfahrungen des Brexit will kein Land mehr austreten und in Sachen Euro-Stabilisierung akzeptieren die betroffenen Länder (insbesondere Griechenland und Italien) nolens volens die maßgebliche Autorität der europäischen Organe.
  7. Der werdende „Vielvölkerstaat Europäische Union“ leidet unter ähnlichen Malaisen wie der seinerzeitige Vielvölkerstaat Österreich und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation: Es gibt „Koalitionen” befreundeter Nationen untereinander innerhalb der EU und an den Rändern der EU wird sogar mit Nicht-EU-Staaten kooperiert. Für manche Themen – etwa die Flüchtlingskrise – findet man über Jahren keine gemeinsame Lösung bzw. keinen akzeptierbaren Kompromiss.
  8. Der EU fehlt es immer noch an einer von allen als gemeinsam empfundenen Geschichte, einem „europäischen Narrativ“. Europa ist aber faktisch heute schon eine große Schicksalsgemeinschaft mit einer wachsenden gemeinsamen Identität, nach dem Motto: „Nur gemeinsam sind wir stark“.

9. Ein neues alle betreffende Problem bekommt immer mehr Brisanz: wie können sog. abgehängte Regionen wieder attraktiv und wettbewerbsfähig gemacht werden? Das ist objektiv außerordentlich schwierig aber gleichzeitig auch ungemein wichtig. Ohne Erfolg auf diesem Sektor kommt es auf der einen Seite zu immer mehr magnetisch anziehenden Metropolen und auf der anderen Seite immer häufiger zu leer und öd dastehenden oft ländlichen Räumen.

10. Die Europäische Union wird von Wahl zu Wahl »staatsähnlicher«. Sie handelt wie ein Staat, sie hat Gerichte wie ein Staat und sie wird global zunehmend als stabilisierender Faktor zur Kenntnis genommen, ja angefragt. Es ist zu erwarten, dass dieser Prozess weiter geht. Ob am Ende dieser Entwicklung die »Vereinigten Staaten von Europa« stehen oder nur etwas ähnliches, wird erst die Geschichte erweisen. Hauptmotiv für diese Entwicklung ist allerdings nicht eine zunehmende emotionale Bindung der Europäer untereinander sondern die Sorge vor der politischen und ökonomischen Zurückstufung durch die anderen globalen Giganten insbesondere China und USA.

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Über Ingo Friedrich 59 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Seit 1996 ist er Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP), seit 2001 Präsident der Europäischen Bewegung Bayern, seit 2009 Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und seit 2015 Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.