Ausflug in die Vorvergangenheit: Thüringer Stalinisten trauern in Suhl

Wenn die Weltgeschichte, wie der Marxismus lehrt, eine ununterbrochene Abfolge von Klassenkämpfen ist, dann ist die Geschichte der kommunistischen Bewegung eine ununterbrochene Abfolge von Fraktionsbildungen, Abspaltungen, Parteiausschlüssen, und, sobald die Kommunisten irgendwo an die Macht gekommen waren, von Verhaftungen, jahrelanger Untersuchungshaft und harten Verurteilungen, oft mit Todesfolge wie in Ungarn (Laszo Rajk 1949) oder in der Tschechoslowakei (Rudolf Slansky 1952). War der Hegelsche „Weltgeist“, der bei Karl Marx in Gestalt des „Proletariats“ auftritt, dem „Renegaten“, wie die Abweichler genannt wurden, gnädig gesinnt, konnte er nach Jahren, wenn die durch die Staatsmacht vollzogene Zerstörung seines Lebens zum politischen Irrtum erklärt worden war, erneut in die Partei aufgenommen werden. So erging es Paul Merker (1894-1969), dem Mexiko-Emigranten und Widersacher Walter Ulbrichts (1893-1973), der 1952 als „feindlicher Agent“ verhaftet, 1955 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden, aber schon 1956 vorzeitig entlassen und wieder in die Partei aufgenommen worden war. Nachlesen kann man diese Lebensläufe in Hermann Webers kenntnisreichem Lexikon „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ (Berlin 2008), das immerhin 1168 Seiten umfasst.
Wer am Nachmittag des 29. August der Einladung ins Suhler Hotel Thüringen gefolgt war, konnte diese „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) noch einmal bis zum Erbrechen erleben. Als ich gegen 17.00 Uhr den Raum im ersten Stock betrat, wo eine Vorstellung des Egon-Krenz-Buches „Walter Ulbricht“ (2013) stattfinden sollte, was aber als Veranstaltung der linkssektiererischen Zeitschrift „RotFuchs“ getarnt war, meinte ich, ins Jahrestreffen des Keglervereins „Alle Neune“ oder der Sängervereinigung „Waldeslust“ geraten zu sein: Alle kannten sich, begrüßten einander lauthals und umarmten sich mit klassenkämpferischen Schulterklopfen. Es war verwunderlich, dass sie nicht zu Beginn gemeinsam die „Internationale“ oder die DDR-Hymne sangen. Die Freude darüber, wieder einmal Nestwärme und synchronisierten Zungenschlag zu genießen, war körperlich spürbar und überwältigte die Altgenossen bis zur Tränengrenze. Es war wie im Tierpark Heinrich Dathes in Berlin-Friedrichsfelde, wo man die letzten DDR-Stalinisten in freier Wildbahn beobachten konnte. Die rund 70 „Genossen“ (höchstens fünf Teilnehmer waren Journalisten und kritische Zuhörer!) waren unter sich, sie trauerten noch immer dem 1989 so schmählich untergegangenen SED-Staat nach, der sie mit lukrativen Posten im Parteiapparat versorgt und mit unanfechtbaren Machtpositionen gegenüber der wehrlosen DDR-Bevölkerung ausgestattet hatte. Aber nun geht schon fast ein Vierteljahrhundert, obwohl sie gute Renten beziehen, ein Heulen und Zähneklappern durch ihre Reihen, dass sie ihren geliebten Staat, dem sie alles verdankten, nicht vorm Untergang bewahren konnten, und sie versprechen einander, es, wenn es vielleicht einmal wieder „andersherum“ kommt, besser zu machen, gemäß dem Lied aus dem Bauernkrieg „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten`s besser aus!“
Um einem Irrtum vorzubeugen: Bei den in Suhl versammelten Altgenossen handelte es sich keineswegs um Anhänger Gregor Gysis, der immerhin klare Worte gegen die SED-Diktatur 1949/89 findet, es handelte sich vielmehr um die Gefolgschaft des in Dierhagen/Ostsee lebenden Egon Krenz, des kurzzeitigen Nachfolgers Erich Honeckers 1989, der knapp vier Jahre als Freigänger im Berliner Gefängnis Plötzensee zugebracht hat, weshalb er heute als Märtyrer und Heiliger gilt , dem deshalb in Suhl, wo er nur „der Egon“ genannt wurde, alle Sympathien zuströmten. Eingeladen hatten nach Suhl die „Interessengemeinschaft Geschichte“ innerhalb der Partei „Die Linke“ und der Berliner Verlag „edition ost“, wo das Walter-Ulbricht-Buch im Mai erschienen ist, dessen Leiter Frank Schumann (inoffizieller Mitarbeiter „Karl“ bei der Staatssicherheit) die Diskussion, die keine war, leitete. Auf dem Podium saßen Ilona Günther, ehemaliges ZK-Mitglied in Ostberlin und führende Genossin („Agitation und Propaganda“) in der SED-Bezirksleitung Suhl, Walter Ulbrichts letzter Leibarzt Dr. Rainer Fuckel (SED) und Helmut Müller, nach Konrad Naumann (1928-1992) zweiter Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. Nicht erschienen waren Dr. Hans Reichelt, 1972/89 DDR-Landwirtschaftsminister, und Gerhard Mendl, einst Erster Sekretär der FDJ-Bezirksleitung Rostock.
Verlagsleiter Frank Schumann erzählte dann einleitend, wie das Buch zustande gekommen war, dass innerhalb von vier Wochen 6000 von 7000 Exemplaren verkauft werden konnten, und dass bereits fünf der 70 Beiträger verstorben seien, darunter der Schriftsteller Erik Neutsch (1931-2013) und Kurt Blecha (1923-2013), der 1961 am 15. Juni als Leiter des Presseamtes beim DDR-Ministerrat den Vorsitz der legendären Pressekonferenz im „Haus der Ministerien“ geführt hatte, wo Walter Ulbricht den am 13. August 1961 als Lüge enttarnten Satz gesagt hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“
Danach kamen die drei Parteiveteranen auf dem Podium zu Wort, zunächst die 1928 geborene Ilona Günther, die noch einmal die rührende Geschichte erzählte, wie sie am 17. Februar 1954 nach Bonn zur SPD-Zentrale fuhr, um im Auftrag Walter Ulbrichts dem SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer einen Brief zu überbringen, womit die Aufrüstung Westdeutschlands verhindert werden sollte. Die Briefträgerin wurde aber brüsk abgewiesen, der Brief erschien dann am 19. Februar in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“, ohne die Sicherheitspolitik Konrad Adenauers irgendwie zu gefährden.
Auch Leibarzt Dr. Rainer Fuckel (76), ein Arbeiterkind aus Bad Liebenstein, der Schlosser gelernt hat, der dann im Jahr des Arbeiteraufstands 1953 in die „Arbeiterpartei“ SED eingetreten ist und nach dem Abitur an der „Arbeiter- und Bauernfakultät“ an der Universität Jena Medizin studiert hat, wusste nur Belangloses aus den Krankenakten des von ihm 1971/72 betreuten Patienten beizutragen. So hätte „Wulbricht“ (Herbert Wehner) nach Politbürositzungen immer einen hohen Pulsschlag gehabt. Wann sollte denn das gewesen sein? Nach Walter Ulbrichts Sturz durch den Genossen Erich Honecker am 3. Mai 1971 hat sein Patient an keiner Politbürositzung mehr teilnehmen dürfen. Außerdem: Die Spitzengenossen, die, abgeschottet von der Bevölkerung, in Wandlitz bei Berlin gewohnt hätten, wären bescheidene Menschen gewesen, von „spartanischer Lebensweise“. Hat das ihre unmenschliche Politik erträglicher gemacht?
Helmut Müller (83), dem in Suhl die Rolle eines Kurt Hager von der „Ideologischen Kommission beim ZK der SED“ zugefallen war, sprach über die „Konterrevolution“, die dem SED-Staat nach der Moskauer Geheimrede 1956 über Stalins Verbrechen und nach dem Ungarnaufstand gedroht habe. Er erwähnte auch, in unerwarteter Einsicht, die „Demokratiedefizite“ im „Arbeiter- und Bauernstaat“ . Als ob es in der DDR jemals echte Demokratie gegeben hätte, deren „Defizite“ zu beheben gewesen wären! Die DDR war vom 7. Oktober 1949 bis zum 9. November 1989 ein ununterbrochenes Demokratiedefizit!
Auch der Einwurf Frank Schumanns, man hätte die Einschränkungen der Bürgerrechte durch die „Staatssicherheit“ nie akzeptiert, konnte nur Kopfschütteln auslösen: Es gab im SED-Staat keine Bürgerrechte, die hätten eingeschränkt werden können! Die Bürgerrechte wie Rede- und Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und Streikrecht, die Bürgertum und Arbeiterklasse im 19./20. Jahrhundert erkämpft hatten, waren seit 7. Oktober 1949 abgeschafft! Man kann im Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957 nachlesen, was alles verboten war. Der Paragraf „Staatsgefährdende Hetze“ bedeutete nichts Anderes als: Kritik an Staat und Partei warenverboten! Da genügte schon, einen politischen Witz zu erzählen, und man landete für zwei Jahre im Zuchthaus Waldheim!
Die Stalinisten von Suhl, die immer noch ihre 1989 geschlagenen Wunden lecken, beklagten sich auch darüber, dass ihnen die Jugend nicht mehr zuhört! Was soll eine aufgeklärte Jugend auch damit anfangen, dass man ihnen wahrheitswidrig erzählt, in der DDR hätte „das Volk“ über Gesetzesvorlagen abstimmen dürfen. Demokratische Alternativen zu diesen Gesetzen durften aber nicht eingebracht werden. Und wer solche öffentlich einforderte, wurde mit dem Strafrechtsergänzungsgesetz konfrontiert.
Ich war wohl der einzige Zuchthäusler im Saal, aber mir mit meinen Waldheim-Erfahrungen die DDR auf derart wirklichkeitsfremde Weise erklären zu wollen, war eine Zumutung! Vielleicht sollte man hier auf einen Artikel Daniela Dahns im „Neuen Deutschland“ vom 25. April 2009 verweisen. Dort schrieb unter dem Titel „Das Urteil von den zwei deutschen Diktaturen“ die ein wenig aufgeklärtere Gesinnungsgenossin der Suhler Stalinisten: „Nicht minder düster die politische Strafjustiz…Erschreckend viele Menschen sind, hauptsächlich in den ersten fünfzehn Jahren der DDR, unter unsäglichen Beschuldigungen zu unsäglich hohen Strafen unter unsäglichen Haftbedingungen verurteilt worden. Was den juristischen Umgang mit Andersdenkenden betrifft, so ist der Begriff Unrechtsregime allemal gerechtfertigt.“

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Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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