In nur wenigen Wochen ist das Vertrauen in die USA als globale Ordnungsmacht und verlässlicher Verbündeter stark erodiert. Sogar das Vertrauen in die demokratischen Institutionen und den US-Dollar ist beschädigt. Dieses Beispiel zeigt, wie fragil das Verhältnis zwischen Macht, Wahrheit und Vertrauen ist. Es ist auch ein warnendes Beispiel für uns, denn auch hierzulande sinkt das Vertrauen in Politik und Institutionen auf gefährliche Tiefstände. Das hat auch damit zu tun, dass sich der Umgang mit Wahrheit gesellschaftlich, politisch und medial verändert hat. Sie ist nicht mehr das Feld, sondern zum Spielball geworden.
Die Wahrheit hat es schwer in diesen Zeiten. Überall wird sie verleugnet, verdreht oder verhöhnt. Wo Macht entsteht, ist die Wahrheit in Gefahr. Denn Wahrheit nützt den Menschen, die Unwahrheit den Mächtigen. Wer über Macht verfügt, hat Deutungshoheit und definiert Realität – und damit auch das, was als legitim, rational, notwendig oder gerecht gilt. Hinzu kommt, dass durch digitale Medien, durch hybride Manipulation, kognitive und psychische Beeinflussung Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge kaum noch auseinanderzuhalten sind. Schlimmer noch: Irgendwann könnte es den Menschen egal sein, was wahr ist oder was sie für wahr halten. Wenn man alles für möglich hält, kann man alles für wahr halten. Nie war es bequemer und einfacher, zu glauben, was man denkt. Die Lüge braucht heute nur einen Sündenbock, um sich als Wahrheit auszugeben. Der Kampf um die „Wahrheit“ hat begonnen, der „war of stories“, wie Salman Rushdie es unlängst genannt hat. Es ist der vielleicht wichtigste Kampf um die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft. Der Demokratie dürfen dazu nur die Mittel der Demokratie recht (Recht) sein. Wahrheit lässt sich nur mit Wahrhaftigkeit verteidigen.
Die unablässige Suche nach der Wahrheit, die ständige Korrektur der öffentlichen Meinung im Lichte neuer Fakten und Bewertungen spielt für liberale Demokratien und offene Gesellschaften eine entscheidende Rolle. Hass ist keine Meinung, Haltung noch kein Argument. Ohne (Meinungs-)Freiheit gibt es keine Wahrheit, aber erst die Suche nach Wahrheit gibt der (Meinungs-)Freiheit ihren Wert. Aus Wahrheit lässt sich Frieden, Gerechtigkeit und Fortschritt erzeugen, aus der Lüge nicht. Eine unabhängige Justiz, eine werturteilsfreie Wissenschaft und ein pluralistischer Journalismus sind Garanten der Suche nach Wahrheit. Nicht zufällig geraten in autoritären Systemen zuerst Richter, Wissenschaftler und Journalisten ins Visier der Machthaber. Umgekehrt ist aber die Justiz der Unabhängigkeit, die Wissenschaft der Werturteilsfreiheit und der Journalismus der Pluralität verpflichtet. Viele Menschen haben begonnen, genau daran zu zweifeln. Wenn alles nur noch Haltung ist, herrscht kein Vertrauen in die unparteiische Urteilsfähigkeit der Institutionen mehr, wenden sich die Menschen ab und steigen aus der Gesellschaft aus. Ohne die Liebe zur Wahrheit gibt es auch keine Empathie und kein Gerechtigkeitsempfinden mehr.
Nun ist Wahrheit keine epistemische Gewissheit, aber sie ist ein ethischer Anspruch auf Integrität, Aufrichtigkeit und Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Gesellschaftlich-politische Wahrheit ist, anders als naturwissenschaftliche, nicht die eine objektive, intersubjektiv nachprüfbare Wahrheit, sondern das gemeinsame (An-)Erkennen und Verhandeln unterschiedlicher Wahrnehmungen in komplexen und pluralistischen Gesellschaften. Wo dieser Anspruch aufgegeben wird – durch Lügen, Leugnen oder Zynismus –, zerfällt das gemeinsame Bezugssystem einer Gesellschaft. Demokratie ist in diesem Sinne nicht nur und nicht vor allem die Bestimmung von Mehrheiten aus unterschiedlichen Interessen und Meinungen, sondern besteht ihrer ethischen Substanz nach in genau einer so verstandenen Suche nach Wahrheit. In „Wahrheit und Politik“ (1967) schreibt Hannah Arendt über den politischen Wert von Wahrheit: „Tatsächliche Wahrheit ist […] politisch unerlässlich, und ihre Verletzung ist immer ein Angriff auf das Fundament einer gemeinsamen Welt.“ Arendt hebt hervor, dass die Wahrheit – insbesondere die Faktenwahrheit – eine ethische Rolle im politischen Diskurs spielt. Wer sie manipuliert, zerstört das Vertrauen in öffentliche Rationalität.
Ganz in diesem Sinne unterscheidet Paul Ricœur zwischen Wahrheit als epistemischem Begriff und Wahrhaftigkeit als ethischer Haltung: „Wahrhaftigkeit ist der Wille, das Wahre zu sagen. Sie ist eine Tugend.“ (in: „Soi-même comme un autre“, 1990). Immanuel Kant formuliert in seiner Moralphilosophie dazu einen ethisch klaren Imperativ: „Wahrhaftigkeit […] ist ein unmittelbares Pflichtgesetz, das unter allen Umständen gilt.“ (in: „Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“, 1797). Für Kant ist die Wahrheitspflicht kategorisch – sie gilt immer, auch wenn eine Lüge scheinbar positive Konsequenzen hätte. Lügen beschädigt die Autonomie und Vernunftfähigkeit des anderen – und damit seine Würde.
Wahrhaftigkeit als Tugend ist heute umso bedeutender, als die Wahrheit immer schwieriger zu erkennen ist. Wahrheit darf nicht moralisch sein, die Wahrhaftigkeit muss es. In der Demokratie darf die Wahrheit sogar im Vagen bleiben, im Kompromiss, denn im Kompromiss ist man nicht allein, er bedeutet Gemeinschaft und gemeinsame Verantwortung. „Was ist also Wahrheit?“, fragt Friedrich Nietzsche. „Ein bewegliches Heer von Metaphern […] – Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.“ (in: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, 1873). Michel Foucault zufolge entsteht „Wahrheit“ als Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse: „Wahrheit ist eine Sache dieser Welt: sie wird von vielfältigen Zwängen produziert und steht unter dem Einfluss von Macht.“ (in: Diskurs und Wahrheit, 1983). Wahrheit kann demnach sogar gefährlich sein, wenn sie moralisch überhöht oder ideologisch verabsolutiert wird. Wahrheit steht nie im Dienst einer höheren Sache. Der Anspruch an Wahrheit wird dann arrogant und aggressiv, Wahrhaftigkeit dagegen ist bescheiden und freundlich. Die demütige und zweifelnde Suche nach Wahrheit ist die unteilbare Verantwortung, die wir alle haben. Sie ist das letzte Fundament einer liberalen Demokratie und offenen Gesellschaft.
Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik