Russland und der Westen: Marshallplan statt Krieg

putin der russische präsident politik regierung, Quelle: Victoria_Borodinova, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Die Dinge schaukeln sich immer höher: Russland schickt neue Truppen, der Westen bereitet neue Sanktionen vor und die Ukraine träumt von modernen Waffen. In Verantwortung vor der ganzen Welt muss jetzt mit nüchterner und strategischer Vernunft dieses giftige Gebräu aufgelöst werden und zwar durch eine grundlegend neue Politik des Westens: eine Politik, die sich weder an dem Ego der Autokraten noch an dem lautstarken Gebrüll der Populisten aller Seiten orientiert. Stattdessen muss die langfristige Stabilisierung der Lebenssituation der Menschen alleiniger Maßstab sein.

Konkret: Den russischen Bürgern – und nicht dem Präsidenten Putin – sollte jetzt in einer großen Geste des Westens ein für die russischen Bürger unwiderstehlich attraktives Angebot machen: wir helfen Euch durch eine Art Marshallplan Euer großes und wunderbares Land aufzubauen, Eure Infrastruktur auszubauen und wir bauen Produktionsstätten um zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Wir bieten Euch die Chance Euer ganzes – veraltetes – Wirtschaftssystem auf den heutigen Stand zu bringen. Dazu berufen wir eine große internationale Wirtschaftssenat- und Friedenskonferenz ein unter Beteiligung unserer besten Unternehmen und Topwissenschaftler. Wir reichen Euch die Hand für eine gemeinsame Zukunft in Wohlstand und Stabilität. Das könnte Putin zwingen bzw. veranlassen seine kriegerischen Ausdehnungspläne zu begraben. Die derzeit diskutierten Vorstellungen unter den Stichworten Minsk und Normandie-Format reichen zur Lösung der völlig verfahrenen Situation offenbar nicht aus.

Für den Erfolg einer derart neuen Strategie des Westens ist entscheidend, dass der Westen die zentralen Fakten Russlands in seiner Analyse berücksichtigt, als da sind:

  1. das Bruttosozialprodukt Russlands liegt unter dem von Italien
  2. das durchschnittliche Einkommen der Russen liegt unter dem der Türkei
  3. wenige extrem reiche Oligarchen stehen einer extrem armen Normalbevölkerung gegenüber
  4. das russische Nationalgefühl wird nach wie vor primär durch Militär und nationale Größe gestillt
  5. Putin ist mit seiner ursprünglichen Hoffnung gescheitert, aus Russland einen modernen Staat zu machen
  6. Putin sieht in der „Hinzufügung“ neuer Territorien eine der wenigen Möglichkeiten seine Popularität zu steigern
  7. Putin fürchtet, ein Volksaufstand könnte mit Hinweis auf den Erfolg früherer russischer Einflusszonen wie Polen, die baltischen Staaten oder gar die Ukraine seine Herrschaft hinwegfegen. Deswegen die Morde und das Wegsperren von Leuten wie Nawalny
  8. der Verkauf von Erdgas ist eine der wenigen sicheren Einkommensquellen Russlands, die obendrein durch die Alternativenergien gefährdet sind.

Wenn dann noch dazu kommt, dass Putin wahrscheinlich fürchtet, die Zeit laufe gegen ihn und er deshalb sofort Fakten schaffen müsse, ist der Westen in seinen Grundfesten gefordert. Deswegen muss den Menschen in Russland dieses unwiderstehliche Angebot gemacht werden, eine völlig neue Kooperation mit dem Westen, die ein grundlegend neues Kapitel der Zusammenarbeit aufschlägt.

An die Alternative einer solchen Politik darf man gar nicht denken: Russland als Juniorpartner der neuen Weltmacht China, die dann gemeinsam alles bekämpfen, was westliche Werte ausmacht. Also: der Westen muss jetzt einen mutigen und phantasievollen Schritt machen, den Putin nicht ausschlagen kann und der die komplexe Situation völlig verändert und den toxisch-gefährlichen Cocktail entgiftet. Der große Reset der Politik des Westens ist angesagt und zwar jetzt.

Über Ingo Friedrich 59 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Seit 1996 ist er Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP), seit 2001 Präsident der Europäischen Bewegung Bayern, seit 2009 Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und seit 2015 Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.