Rezension: Khalil Diallo. Die Odyssee der Vergessenen

Sonnenuntergang am Mittelmeer, Foto: Stefan Groß

Khalil Diallo. Die Odyssee der Vergessenen. Roman. Übersetzung aus dem Französischen von Astrid- Bührle-Gallet. Berlin (orlanda) 2023, 256 S., 22.- €, ISBN 978-3-949545-32-0 (frauen weltkultur bewegung)

„Jeder Mensch zeugt vom Verbrechen aller anderen, das ist mein Glaube und das ist meine Hoffnung“ Das Zitat aus Albert Camus` Roman „Der Fall“ in der Einleitung zu dem Roman des jungen, aus Mauretanien stammenden Autors, bringt es auf den Nenner. Es verweist in seiner Vieldeutigkeit auf den verzweifelten Überlebenskampf vieler Afrikaner*innen, die auf der Flucht zum Mittelmeer sich unvorstellbaren Qualen aussetzen müssen. So wie der junge Sembouyane, den die Medizinmänner seines Dorfes einst als jenen bezeichneten, „den niemand haben will“. Der Zufall will es. In die Welt gesetzt in dem winzigen Landstrich Forédougou, zwischen Senegal und Guinea an der westafrikanischen  Küste gelegen, wird er vor dem „Zorn der bösen Geister“ und dem „Appetit der zahlreichen Säuglingsfresser in Malaimé“ gerettet. Es ist ein rechtsfreier Raum, besetzt von Nationalisten und Söldnern, die sich gegenseitig bekämpfen, ein Wartesaal, „der direkt in die Hölle führt“.

Die Geschichte des Ich-Erzählers Sembouyane setzt mit einem grauenerregenden  Ereignis ein. Nach der Rückkehr von der Initiationszeremonie wird der zu einem nach Stammesritualen zum Mann geweihte 22-jährige Sembouyane mit dem Anblick grausam abgeschlachteter Dorfbewohner, unter ihnen alle seine Familienangehörigen und viele Freunde, konfrontiert. Auch Diary, seine künftige Frau, ist schrecklich verstümmelt und mehrmals vergewaltigt, unter ihnen. Und ungeachtet der seelischen und körperlichen Erschütterung ist für ihn in diesem Augenblick der Entschluss gereift: „Der Krieg wird mich nicht zerstören.“ Und mit Idy, seinem besten Freund, der durch Zufall das furchtbare Abschlachten der Dorfbewohner überlebt hat, macht er sich auf die kostspielige Flucht in Richtung Mittelmeer. Die beträchtliche Geldmenge besorgen sie sich durch Diebstahl bei einem gewissen Souley, der sich jahrelang durch Spendengelder bereichert hat. Die einzelnen Etappen der so überhastet einsetzenden Flucht, deren einzelne Etappen auf einer schemahaften Karte  verzeichnet sind, gehen von Forédougou über Sébékoro, Agadez , Dirkou in Mali und Niger, durch die Sahara mit den Orten Murzuk und Ghadames in Libyen, quer durch Algerien zum afrikanischen Zielort Tanger in Marokko. Es ist eine von vielen Hindernissen begleitete Fahrt, die von bewaffneten Überfällen auf die Fahrzeuge der Schleuser gekennzeichnet ist. Die Flüchtlinge sind ständig von Hitze und Wassermangel gequält, erfüllt von dem Wunsch, nach vielen Tagen endlich ans Ziel zu kommen. Und dennoch gibt es angenehme Überraschungen. Mit Alain lernen Sembouyane und Idy einen Schriftsteller kennen, der bereits einige Bücher über afrikanische  Diktatoren geschrieben und publiziert hat und nun auf der Flucht vor seinen Häschern ist. Ebenso auf der Flucht nach Europa ist die aus dem Tschad stammende Maguy. Über sie berichtet der Erzähler: „Das Leid, das ihr zugefügt wurde, hat sie gelehrt, Männern zu misstrauen, und sie weiß, dass sie nichts von ihnen erwarten kann.“ Von ihrem Vater vergewaltigt, vor ihrer Mutter geflohen, die ihr die Beschneidung angekündigt hat, ist sie seit ihrem elften Lebensjahr auf sich allein gestellt. Sie ist eine scheue, stumme Reisebegleiterin, die kurz vor ihrem Tod während des terroristischen Überfalls auf die Reisegruppe über ihr Schicksal als Feministin unter afrikanischen Bedingungen berichtet.

Eine zentrale Figur in dem lukrativen Schleppergeschäft ist die sagenhafte Gestalt von Sami. Über ihn sagt  der Autor, gleichsam losgelöst vom überforderten Ich-Erzähler: „Wie Charon bringt Sami seine Passagiere eher in die Hölle der Wüste als in die goldigen Paradiese des Westens.“ (S. 64). Ein Wolf im Schafspelz sei er, der „nur darauf wartet, dass sich die Türen des Schafstall schließen.“ Unter diese Kategorie fällt Schami nicht. Er erfüllt sein Versprechen, wirft sich todesmutig Terroristen entgegen und stirbt als ehrenhafter Schlepper. Kein Wunder, dass der Ich-Erzähler ständig zwischen griechischen Heldengestalten wie Zeus und Herakles und einheimischen afrikanischen Zeremonienmeistern pendelt, wenn es um die Rettung von Mitreisenden geht, wenn in aussichtslosen Situationen der Tod eines mitreisenden Flüchtlings beklagt wird. Und die Zahl der qualvoll Sterbenden wächst, vor allem nach dem Überfall libyscher Terroristen, die die Flüchtlinge in ein Gefängnis transportieren und sie dann auf einem Sklavenmarkt verkaufen. Besonders dieses Kapitel afrikanischer Terrorgeschichte ist mit grauenerregenden Einzelheiten gespickt. Ebenso bewegend ist der Schluss, in dem der wie durch ein Wunder überlebende Alain in einem Brief aus Paris an einen gewissen Karim in Dakar berichtet. Er schreibt über das letzte Gemetzel auf einer Barke, die ihn und andere Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Spanien bringen sollte. Es ist ein Bericht über erbarmungslos getötete Flüchtlinge, beleuchtet noch einmal aus der Perspektive des überlebenden Schriftstellers Alain.

Es ist ein Roman, der zwischen einem beinahe exzessiven Realismus und kurzweiligen Ausflügen in einen oft mythenverklärenden Alltag in west- und nordafrikanischen Ländern pendelt. Er hinterlässt tiefe Spuren in unseren europäischen Mit-Schuld-Annalen, vorausgesetzt, wir lesen den Roman des gegenwärtig in Dakar lebenden Autors auch als eine Aufforderung zum Handeln. Das heißt, den Stimmen aus dem Wartesaal zur Hölle nicht nur zuzuhören, sondern auch jenen beizustehen, die die Flucht durch die Sahara und über das Mittelmeer überstanden haben. Sie werden sicherlich deren „Odyssee der Vergessenen“ besser begreifen, indem sie das vor ihnen liegende Buch als ein Dokument der Aufklärung über die „höllischen“ Zustände auf diesem Kontinent begreifen. Nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt, breitet er sich als mächtiger Koloss aus, auf dem sich die nahe Zukunft unserer Erde entscheiden wird. Umso wichtiger ist die eingehende Lektüre eines literarischen Dokuments, das nicht nur ein bedeutender  Beitrag zur westafrikanischen Literatur ist, sondern ein Zeugnis eines höllischen Kampfes um die Zukunft eines bedrohten Kontinents ist. Ein hohes Lob für den jungen Verlag Orlanda, der sich mit seiner Losung ‚Afrika bewegt‘ nicht nur die alltäglichen Katastrophen auf diesem mächtigen Kontinent ins Visier nimmt!

 

Finanzen