Die tapferen Revolutionäre von Leipzig – Peter Wensierski las in Bad Rodach

Universitaetskirche in Leipzig, Foto. Stefan Groß

In den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende 1945 war die Kleinstadt Rodach kaum mehr als eine Kulturwüste! In meiner Generation gab es in den fünfziger Jahren nur wenige Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, eigentlich nur das Stadtfilmtheater und die „Evangelische Jugend“. Rodach war auf drei Seiten von DDR-Gebiet umschlossen, und Bürgermeister Kurt Hoffmann sprach damals bekümmert von der „Stadt im toten Winkel“. Wer hier mit dem Zug ankam, musste sich verirrt haben.

Das änderte sich erst, als Pfingsten 1976 das Thermalbad eröffnet und der Rückertkreis gegründet worden waren. Die Kurgäste stellten kulturelle Ansprüche. Der Rückertkreis bot Vorträge an und gründete eine Buchreihe zur Geschichte Rodachs. Nach der Grenzöffnung wurde das kulturelle Angebot zunehmend reichhaltiger. Im „Haus des Gastes“, dem früheren Jagdschloss der Coburger Herzöge, fanden Lesungen und Vorträge statt. Jetzt, am 19. November gelang es dem seit 2014 amtierenden Pfarrer Christian Rosenzweig, den Hamburger Journalisten Peter Wensierski, geboren 1954 in Heiligenhaus bei Essen, nach Bad Rodach zu holen, dessen 2017 erschienenes Buch „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ (2017) seit 2019 auch als Taschenbuch angeboten wird.

Es geht in diesem lesenswerten und spannenden Buch um die heimlichen Helden von Leipzig, die dafür gesorgt haben, dass die friedliche Revolution im Herbst 1989 zum Mauerfall in Berlin führte und am 18. März 1990 zu demokratischen Wahlen, in denen die in PDS umbenannte SED eine vernichtende Niederlage erfuhr. Christian Rosenzweig, der 1989 gerade sechs Jahre alt war und in Coburg die erste Klasse der Volksschule besuchte, gelang es mit bewegenden Worten, die Situation von damals, als Deutschland schon vier Jahrzehnte geteilt war und kaum noch jemand an die Wiedervereinigung glaubte, heraufzubeschwören. Zuvor freilich war der Rodacher Kirchenchor, verstärkt durch Sänger aus Hildburghausen, aufgetreten und hatte ein bekanntes Kirchenlied zu Gehör gebracht.

Peter Wensierskis Auftritt dauerte zwei Stunden, unterbrochen von einer Pause, ohne dass es den Zuhörern langweilig wurde. Er las Szenen aus seinem umfangreichen Buch (464 Seiten), das den Untertitel trägt „Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte“. Nicht die bekannten Politiker wie Michail Gorbatschow in Moskau oder Bundeskanzler Helmut Kohl waren es, die den Auflösungsprozess des Kommunismus ins Werk setzten, sondern eine Gruppe junger Leute aus Leipzig, die am 4. September 1989 mit Zittern und Zagen ihre erste Demonstration auf dem Ring um die Leipziger Innenstadt veranstalteten. Damals waren es nur rund 1000 Teilnehmer, aber die Zahl wuchs von Woche zu Woche, und mit der anschwellenden Zahl der Teilnehmer wuchsen auch ihr Mut und ihre Zuversicht. Am 25. September zogen schon 8000 über den Ring, am 9. Oktober, dem entscheidenden Tag, der das Ende des SED-Staats besiegelte, waren es 100 000. Und sie riefen im Chor eine Parole, die die Stadtgewaltigen erschauern ließ: „Wir sind das Volk!“

Was Peter Wensierski mit seinem faszinierenden Buch geleistet hat, ist die Erklärung der Leipziger Revolution aus ihren kleinen Anfängen im Jahr 1988. Damals entdeckten die jungen Leute giftige Schaumflocken auf der Pleiße, die seit Jahren die Stadt mit ihrem Gestank verpestete. Deshalb veranstalteten die „Initiativgruppe Leben“ und die „Arbeitsgruppe Umweltschutz“ am 5. Juni 1988 einen „Gedenkumzug“ mit 200 Teilnehmern. Vor dem zweiten „Gedenkumzug“ am 4. Juni 1989 wurden 60 Teilnehmer verhaftet, dennoch fanden Kundgebungen statt. Der nur im Westen erschienene Roman „Flugasche“ (1981) der Ostberliner Autorin Monika Maron über die Umweltverschmutzung im Industriegebiet Bitterfeld dürfte einigen Teilnehmern bekannt gewesen sein.

Ständig gab es auch Auseinandersetzungen mit Kirchenfunktionären wie Friedrich Magirius, die zwischen den Bürgerrechtlern und der Staatsmacht zu vermitteln hatten. Als Pfarrer an der Nikolaikirche, dem Brennpunkt des Widerstands, optierte der Superintendent eindeutig zugunsten des Staates und setzte sich dafür ein, die Montagsdemonstrationen abzusetzen. In seiner Autobiografie „Gelebte Versöhnung“ (2017) hat er versucht, seine zwielichtige Rolle damals zu erklären. Als die Verhaftungen, hier „Zuführungen“ genannt, die der „Klärung eines Sachverhalts“ dienen sollten, zunahmen, schaltete sich schließlich der Oberbürgermeister von Hannover, der Patenstadt Leipzigs, ein und rief voller Empörung seinen Leipziger Kollegen an.

Peter Wensierski konnte seinen Vortrag auch durch das Einblenden von Bildern auflockern, wodurch der Eindruck des Authentischen unterstrichen wurde. Besonders überzeugten hier die Fotos zerfallener Häuser in der Innenstadt, ein Symbol für den Zerfall des Staates überhaupt. Ein erschreckendes Beispiel für die zermürbende Bürokratie war auch das Schicksal des Antrags der Bürgerrechtler, ein Straßenmusikfest zu veranstalten, was beim „Rat der Stadt“ beantragt werden musste und dort abgelehnt wurde. Der Weg durch die Instanzen, wobei sich niemand für zuständig erklärte, führte immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Schließlich fanden, am 10. Juni 1989, an mehreren Orten in der Innenstadt Auftritte von Musikern statt. Die Leipziger Bevölkerung war begeistert, die „Volkspolizei“ ließ einen Lautsprecherwagen vorfahren, der alles mit plärrender Schlagermusik störte! Fünf Monate später war die Mauer gefallen!

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.