Selten wurde ein psychologisches Sachbuch international so schnell zum Bestseller und wurde bereits in den ersten Wochen nach dem Erscheinen intensiv und kontrovers diskutiert. Das liegt an der wissenschaftlichen Expertise des Autors und auch daran, dass fast jeder Mensch der Gegenwart dadurch betroffen fühlen kann. Nur wenige Gegenstände prägen moderne Menschen so sehr wie das Handy oder Smartphone. Wenn Eltern ihren Kindern oder Jugendlichen das Smartphone wegnehmen, erzeugt dies die heftigsten Proteste. Und viele Erwachsene äußern nicht selten Bedenken, dass sie selbst zu viel Zeit mit ihrem Smartphone verbringen. Nun behauptet ein renommierter Psychologe, das Smartphone schade Kindern und Jugendlichen und begründet dies mit vielen Daten, Quellen und Tabellen auf 448 Seiten. Die Empörung oder Verunsicherung ist groß. Jonathan Haidt polarisiert zwangsläufig. Seine Leser schwanken zwischen begeisterter Zustimmung und erbitterter Ablehnung.
Zahlreiche Rezensionen in fast allen großen Zeitungen der USA, Englands, Deutschlands und der Schweiz belegen die außergewöhnliche Resonanz. Mittlerweile haben viele Experte relevanter wissenschaftlicher Fachgebiete das Buch analysiert und kommentiert: Psychologen, Soziologen, Entwicklungspsychologen, Neurowissenschaftler, Hirnforscher und natürlich Medienwissenschaftler. Sogar in der renommierten biomedizinischen Zeitschrift „Nature“ sind die Thesen von Jonathan Haidt diskutiert worden (Odgers 2024). Insgesamt erhielt er überwiegend Zustimmung. Besonders Medienwissenschaftlern kritisierten seine Aussagen und Schlussfolgerungen meistens.
In den USA wurde die englischsprachige Originalausgabe sehr schnell zum Bestseller. Haidts Buch „The Anxious Generation“ stand im Jahr 2024 auf den Bestsellerlisten der New York Times, des Wallstreet Journals, des Economists, der Washington Post, der Times (UK) und des Magazins TIME. Bei den Verkaufszahlen über Amazon errang es Platz 1 als „Best oft the Year“ im Bereich Science. Im deutschen Rowohlt-Verlag wurde die deutsche Ausgabe ebenfalls zum Bestseller.
Wer ist Jonathan Haid?
Der 1963 in New York City geborene Jonathan Haidt hat Philosophie und Psychologie studiert. Den Philosophie-Bachelor erwarb er an der Yale University, für das Fach Psychologie promovierte er an der University of Pennsylvania. Seit 2012 ist er Professor für Psychologie an der Stern School of Business der University of New York. Die New York Times zählt ihn zu den 50 einflussreichsten lebenden Psychologen. Im Spezialgebiet der Politik- und Moralpsychologie gehört er zu den meistzitierten Forschern. Sein erster Bestseller widmete sich der Positiven Psychologie. Das erste ins Deutsche übersetzte Buch befasst sich mit den Ergebnissen der Glücksforschung. Das neue Werk „Generation Angst“ wurde im englischsprachigen Original ebenso in der deutschsprachigen Ausgabe zum Bestseller. Der Rowohlt-Verlag hat wohl die Brisanz und Relevanz dieses Buches antizipiert, so dass die deutsche Ausgabe bereits wenige Monate nach der Originalpublikation vorlag. Dies ist für ein psychologisches Sachbuch außergewöhnlich schnell. Im Januar 2025 hat Jonathan Haidt sein Buch und seine Erkenntnisse auf dem Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum WEF) in Davos vorgestellt.
Kernaussagen von „Generation Angst“ (2024)
Der Untertitel verweist bereits auf eine erste Kernaussage: „Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“. Anders formuliert lautet seine Hypothese: Smartphones und digitale Medien schaden der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Entwicklungsphase der Pubertät. Mit vielen Tabellen und Abbildungen belegt Haidt die Verlaufstendenz, dass seit etwa 2012 bestimmte psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen deutlich an Häufigkeit zunehmen. Die Generation Z sei die erste Generation, die mit Smartphones aufwächst, die seit 2007 auf dem Markt sind. In diesem Jahr brachte Apple das erste IPhone auf den Markt. Besonders Mädchen seien durch die negativen Effekte des zu frühen Smartphone-Gebrauches geschädigt. Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Suizide und Internetabhängigkeit seien deshalb seit 2012 deutlich häufiger. Beim männlichen Geschlecht dieses Alters seien die Anstiege moderater. Bei den Jungen seien Spiel- und Pornosucht deutlich gestiegen.
Jonathan Haidt glaubt nicht, dass allein die Smartphones und Social Media für diese Anstiege verantwortlich sind. Als weitere Ursache sieht er die angstgetriebene Überbehütung von Kindern (over-protection, Helikopter-Eltern). Beide Trends würden sich wechselseitig verstärken und eine Negativspirale auslösen, die zum Anstieg der oben genannten psychischen Störungen führt. Die Überbehütung in der realen Welt und die Unterbehütung in der virtuellen Welt führten nach Haidt dazu, dass die Generation Z immer mehr zu einer ängstlichen und nervösen Generation wurde. In mehreren Studien wurde nachgewiesen, dass die Gesamtstundenzahl von täglich genutzten Bildschirmmedien von Jahr zu Jahr zunimmt und die Zeit der gemeinsamen Zeit mit Gleichaltrigen immer mehr abnimmt. In den USA stieg in den Jahren 2019 bis 2021 die tägliche Bildschirmzeit bei Teenagern von 7:22 auf 8:39 Stunden. Je jünger die Kinder mit Smartphone sind, desto weniger Zeit verbringen sie mit Spielen und der realen Kommunikation mit anderen Kindern.
Haidt diagnostiziert deshalb zwei antagonistische Grundtendenzen: den Niedergang der spielbasierten Kindheit und der Aufstieg der smartphonebasierten Kindheit. Entsprechend lauten auch die Überschriften der beiden Hauptkapitel seines Buches. Die smartphonebasierte Kindheit hat nach Haidt vier Grundübel: Soziale Deprivation, Schlafmangel, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Abhängigkeit. Diese Grundübel fördern nach Haidts Argumentation die Entstehung psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – wobei aber viele andere Faktoren ebenfalls hinzukommen. Die Entstehung psychischer Erkrankungen hat ein sehr komplexes Ursachenbündel, bei dem biologische (Genetik, Epigenetik, hormonelle Faktoren), psychische und soziologische Faktoren zusammenwirken. Diese blendet er weitgehend aus, weshalb manche Kritiker ihm verkürzte monokausale Erklärungen vorhalten.
Wissenschaftliche Diskussion
In den relevanten Wissenschaften wurde Haidts Buch bevorzugt von Psychologen und Medienwissenschaftlern diskutiert. Die härtesten und fundiertesten Kritiken kamen von zwei US-Professoren, Candice Odgers von der Duke-University und Christopher Ferguson von der Stetson University in Florida. Sie würdigen die umfangreiche Datensammlung aus zahlreichen Studien, kritisieren aber die einseitigen Schlussfolgerungen. Psychische Erkrankungen seien durch viele Faktoren eines komplexen Ursachenbündels bedingt und nicht durch eine Ursache. Außer dem monokausalen Erklärungsmuster halten sie Jonathan Haidt vor, dass er oft Korrelation und Kausalität verwechsle. Eine Gruppe von Medienwissenschaftlern der Universität Würzburg legte 5 Kritikpunkte vor. Sie argumentieren, dass viele Befunde USA-spezifisch seien und erklären dies an den Suizidraten: während diese in den USA bei weiblichen Jugendlichen dramatisch anstiegen, sind die Zahlen in Deutschland in den letzten 40 Jahren sukzessive gefallen. Die empirischen Belege seien zudem mangelhaft, zu selektiv und einseitig (Appel, Weber & Hutmacher 2024). Einige Monate nach Erscheinen von Haidts Buch veröffentlichte sein Kritiker Christopher Ferguson eine eigene Meta-Analyse zu diesem Thema. Er legte eine Auswertung von 46 internationalen Studien vor, die keine wissenschaftlichen Belege dafür fand, dass Social Media die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schädigen (Ferguson 2024). In der deutschen Übersetzung taucht wiederholt der Begriff „Neuverdrahtung“ auf. Im Original steht dafür „rewiring“. Gemeint sind vermutlich veränderte Hirnfunktionen und die Ausbildung neuer neurobiologischer Strukturen und Netzwerke. Hier ist insgesamt im Buch eine Schwäche: die von Haidt ausgeführten psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen gehen mit veränderten Hirnvorgängen einher. Haidt zeigt zu wenig auf, inwieweit die neurobiologische Grundlagenforschung seine Hypothesen stützt.
Umsteuern und Möglichkeiten der Prävention
Jonathan Haidt gibt viele Anregungen, die zu einer Verbesserung der aktuellen Lage für Kinder und Jugendliche führen könnten. Sie sind einfach und kosten nicht viel. Man müsse nicht mal Politiker bemühen oder Gesetze ändern. Wenn es einen konstruktiven Pakt zwischen Eltern und Schulen gäbe, und diese gemeinsam drei Grundregeln durchsetzen könnten, würde die Lage schnell besser werden.
Seine Lösungsvorschläge lauten:
- Handyfreie Schulen
- Kein eigenes Smartphone bis zum Alter von 14 Jahren
- Zugang zu sozialen Netzwerken erst mit 16 Jahren
Alle Väter und Mütter von Kindern und Jugendlichen wissen, wie hart und oft frustran Verhandlungen oder Auseinandersetzungen zu familiären Regeln der Handy- oder Internetnutzung sind. Dies erfordert zuallererst Einsicht und Problembewusstsein bei Eltern und Schulen, Veränderungsbereitschaft, Willensstärke, Durchsetzungskraft und Beharrungsvermögen. So einfach geben Kinder und Jugendliche ihre Handys nicht her! Dann müssten sich allerdings die Eltern mehr um ihre Kinder kümmern, mehr mit ihnen spielen und mehr gemeinsam unternehmen. Wer kann und will das schon? Da ist es doch viel leichter, das Kind den unendlichen virtuellen Räumen zu überlassen. Der Aufschrei und die Empörung über die Grundannahmen von Jonathan Haidt ist am größten bei demotivierten, vernachlässigenden, verunsicherten oder angstgetriebenen Eltern.
Literatur
Appel, Markus, Weber, Silvia, Hutmacher, Fabian, Generation Angst: Machen soziale Medien die Jugend psychisch krank? Online-Magazin Einblick der Julian-Maximilians-Universität Würzburg vom 12. Juni 2024
Ferguson, Christopher, Kaye, Linda, Branley-Bell Dawn, Markey, Patrick, There Is No Evidence That Time Spent on Social Media Is Correlated With Adolescent Mental Health Problems: Findings From a Meta-Analysis. Professional Psychology: Research and Practice 56 (1): 2024, 73 – 83
Haidt, Jonathan, Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen. Rowohlt, Hamburg 2024
Odgers, Candice, The great rewiring: is social media really behind an epidemic of teenage mental illness? Nature 628 (2024) 29 – 30
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Herbert Csef
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