Zwischen Corona und Ukrainekrieg – Das Leben in unsicheren Zeiten

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Der renommierte australisch-britische Historiker Christopher Clark schrieb für seinen neuen Bestseller „Gefangene der Zeit“ einen Essay mit dem Titel „Unsichere Zeiten“. Geschrieben und überarbeitet hat er ihn im Frühjahr 2020 und ging darin bereits auf die Corona-Pandemie ein. Mit gutem Gespür ahnte er mögliche kommende Krisen, die von Russland ausgehen könnten. „Das Putin-Regime ist auf Konfrontationskurs gegen die NATO und EU gegangen und hat dabei in Ostmitteleuropa einen eingefrorenen Konflikt geschaffen, für den keine Lösung in Sicht ist.“  Den russischen Außenminister Sergei Lawrow zitierte er mit dessen Formulierung von einer „nachwestlichen Weltordnung“. Zwei Jahre später, am 24. Februar 2022, hat die russische Armee mit einer Riesenarmada von Panzern, Raketen und Kampfflugzeugen die Ukraine angegriffen. Dieser Angriffskrieg ist die größte Bedrohung für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine frühzeitig ausgesprochene Drohung Putins mit Atomwaffen hat das Schreckensszenario noch wesentlich gesteigert. Vor allem die NATO soll dadurch von einer Einmischung in den Konflikt abgeschreckt werden. Die von Christopher Clark gewählte Chiffre von den „unsicheren Zeiten“ hat damit sehr schnell eine horrende Aktualität erhalten.

Unsicherheit als zentrales Merkmal der VUCA-Welt

 In den neunziger Jahren – also vor etwa 30 Jahren – wurde am United States Army War College der VUCA-Begriff entwickelt, der als Akronym die vier wesentlichen Merkmale der multilateralen Welt nach dem Ende des Kalten Krieges zusammenfasst. Die vier Buchstaben stehen für die Phänomene Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. In Kriegszeiten ist besonders die tiefe Unsicherheit der größte Stress- und Belastungsfaktor. Die hohe Zahl der Kriegstoten verdeutlicht dramatisch die existentielle Dimension. Die Unsicherheit und Ungewissheit gipfelt für die im Kriegsgebiet bedrohten Menschen letztlich in dem Bewusstsein, nicht wissen zu können, ob man morgen überhaupt noch am Leben ist. Bereits vor Beginn des Ukraine-Krieges fand das VUCA-Konzept große Verbreitung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, weil die genannten vier Merkmale als besonders relevant für das moderne Leben erachtet wurden. In deutschen Verlagen erschienen erste Bücher über die VUCA-Welt (Mack 2015 , Heller 2019, Surzykiewicz et al 2021).

Zunehmende globale Krisen im 21. Jahrhundert

Das Jahr 1989 weckten der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs in Europa große Hoffnungen auf eine friedliche „Post-Cold-War-Welt“. Die deutsche Wiedervereinigung, die ohne Blutvergießen erfolgen konnte, war der Erfolg geschickter diplomatischer Verhandlungen. Die wiederholte Beschwörung von „blühenden Landschaften“ durch den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl wurde zum Symbol eines Fortschrittsoptimismus, der zunehmend von trügerischen Hoffnungen und Illusionen durchzogen war. Der Historiker Christopher Clark beschrieb diese Selbsttäuschung wie folgt:

„Man glaubte im Westen, der Triumph des Kapitalismus gehe mit dem Sieg der liberalen Demokratie einher. Man glaubte, man habe den Gipfelpunkt einer langen historischen Entwicklung erreicht. Ja man glaubte sogar, die Geschichte selbst habe sich in diesem sich anbahnenden amerikanischen Jahrhundert vollendet…Der Westen als Wertesystem und politische Ordnung hatte welthistorisch gesiegt, und nun, so die Annahme, konnte endlich die Phase ihrer universalen Verbreitung unter Amerikas Führung beginnen.“ (Christopher Clark, 2020, S. 309)

Welch grandioser Trugschluss. Zu viele Fakten und Realitäten wurden in dieser Sichtweise ausgeblendet. Die Historikerin Kristina Spohr hat diesen politischen Prozess  ein Jahr vor Christopher Clark in ihrem Bestseller „Wendezeit“ treffend beschrieben (Spohr 2019). Die erste große Warnung war leider im selben Jahr 1989 in China – die sehr blutige Niederschlagung von Demonstrationen und Aufständen auf dem Tiananmen-Platz. Mit dem Rücktritt des russischen Präsidenten Gorbatschow und dem Zerfall der Sowjetunion kam es zu ersten Kriegen im Nachkriegseuropa: der Kosovo-Krieg und alle kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien. Im beginnenden 21. Jahrhundert taumelte die westliche Welt von einer Krise in die nächste.  Die Terroranschläge von 9/11, die folgenden Kriege im Irak und Afghanistan, die kriegerischen Interventionen Russlands in Tschetschenien, Georgien und in Syrien, schließlich die Krim-Annexion im Jahr 2014. Zwischendurch gab es diverse globale Finanzkrisen, in Europa im Jahr 2015 die Flüchtlingskrise und ab 2020 die weltweite Corona-Pandemie. Die krisengeschüttelte Welt hatte bereits ein Maximum von Unsicherheit. Sie hätte einen weiteren Krieg wirklich nicht gebraucht. Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist die Welt nochmal erschreckend unsicherer geworden.

Die Frage nach einer resilienten Gesellschaft

 Resilienz beschreibt die Widerstandskraft einer Gesellschaft. In der Psychologie spricht man bei Individuen von der psychischen Widerstandskraft. Die resiliente Gesellschaft hat nach Markus Brunnermeier (2021) die Fähigkeit, in kollektiven oder globalen Krisen zurückzufedern in einen neuen stabilen Zustand. Der weltweit renommierte Makroökonom schreibt in seinem fundierten Grundlagenwerk im vierten und letzten Kapitel über globale Resilienz und eine neue Weltordnung. Als große Krisen und Herausforderungen sah er besonders globale Finanzsysteme und den Klimawandel. An einen möglichen dritten Weltkrieg hat er wenige Monate vor Kriegsbeginn nicht gedacht und Russland als Hauptaggressor hatte er auch nicht auf dem Schirm. Nun ist es radikal anders gekommen. Die Ausführungen Brunnermeiers für die mögliche kollektive Krisenbewältigung der Gesellschaft haben trotzdem eine große Bedeutung, denn fast alle Regionen der Welt müssen mit den großen Herausforderungen durch diesen neuen Krieg umgehen. Militärisch geht es um Sieg oder Niederlage, für die betroffenen Gesellschaften geht es um Bewältigen oder Scheitern.

Literatur

Brunnermeier, Markus, K, Die resiliente Gesellschaft. Wie wir künftige Krisen besser meistern können. Aufbau Verlag, Berlin 2021

Clark, Christopher, Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020

Csef, Herbert, Die resiliente Gesellschaft – 70 Jahre erfolgreiche Resilienzforschung. Tabulararasa Magazin vom 28. Februar 2022

Heller, Jutta, Resilienz für die  VUCA-Welt. Springer, Berlin, Heidelberg 2019

Mack, Oliver (Hrsg.) Managing in a VUCA-World. Springer, Berlin, Heidelberg 2015

Spohr, Kristina, Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019

Surzykiewicz, Janusz, Birgmeier, Bernd, Hofmann, Mathias, Rieger, Susanne (Hrsg.) Supervision und Coaching in der VUCA-Welt. Springer, Wiesbaden 2021

Korrespondenzadresse

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Csef_h@ukw.de

 

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.