Der Weg ist meist nicht das Ziel

Die Schlacht im Hürtgenwald 1944/45

Schritte im Sand, Foto: Stefan Groß

Weg und Ziel sind in bestimmten Fällen identisch, in den meisten Fällen nicht. Für Anarchisten gilt: Der Weg ist das Ziel, was der permanenten Revolution entspricht, die nicht mit der Trotzkis verwechselt werden darf. Auch die Arbeit von Parlamentariern in Demokratien sollte ein Selbstzweck sein, nämlich die Demokratie. Hier sollen Weg und Ziel zusammenfallen. Weitere Beispiele sind die Jahrzehnte und Jahrhunderte andauernde Kriege zwischen islamischen Ländern, bei denen kein Ziel außer der Selbstvernichtung erkennbar ist. Doch meistens lässt sich der Weg vom Ziel abgrenzen, insbesondere wenn das beabsichtigte Ziel erreicht wird.

Es gibt jedoch Situationen, in denen im Nachhinein trotz Erreichen des Ziels das Ziel verleugnet (vergessen) wird, so weil es unangenehme Erinnerungen weckt. Solche Situationen treten nicht nur bei Einzelpersonen auf, sondern oft im Kollektiv. Eine solche Situation beschreibt die Schlacht im Hürtgenwald, die über drei Monate vom 19. November 1944 bis zum 8. Februar 1945 andauert. 30.000 Menschen, Alliierte und Deutsche, sterben sinnlos.

Der Hürtgenwald liegt in der Nordeifel. Die Amerikaner nehmen bereits Ende Oktober 1944 die Grenzstadt Aachen ein. Der südlich von Aachen gelegene Hürtgenwald soll schnell erobert werden, damit die amerikanischen Soldaten und ihre Verbündeten anschließend weitere Teile Deutschlands von den Nazis und ihrer unmenschlichen Ideologie befreien können. Von der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 bis zur Befreiung Aachens benötigen die Alliierten nur vier Monate. Beinahe genauso lange Zeit benötigen die Alliierten, um den kleinen Hürtgenwald zu erobern.

Seit vielen Jahren wird in der Nordeifel der Schlacht im Hürtgenwald gedacht. Überlebende Soldaten beider Seiten und ihre Angehörigen werden eingeladen. Die heutige militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und Deutschland wird hervorgehoben und feierlich versprochen, dass niemals wieder ein Krieg im Hürtgenwald oder anderswo zwischen den Verbündeten stattfinden wird. Doch niemand auf deutscher Seite hat sich bisher offiziell überlegt, warum so viele Deutsche den Hürtgenwald derart sinnlos verteidigt haben. Dass der Krieg verloren gewesen ist, ist den Verteidigern des NS-Regimes klar gewesen. Nach dem Krieg werden die Überlebenden auf beiden Seiten Freunde. Warum also die sinnlose und todbringende Verteidigung des Hürtgenwalds, welche nur die Leiden verlängert?

Der Befehl, die Alliierten im Hürtgenwald aufzuhalten, kommt aus Berlin von Hitler persönlich. Auch Hitler weiß, dass der Krieg verloren ist. Hitler verlangt von den deutschen Soldaten zu sterben, um den Krieg zu verlängern. Das Leben der Soldaten und Zivilisten, ob Deutsche oder Amerikaner, ist dem Führer gleichgültig. Kapitulation kommt nicht in Frage, obwohl sie Monate später dennoch geschieht. Was ist der Grund für die Kriegsverlängerung? Ist die Spitze der Wehrmacht irre? Kuscht sie vor Hitler, obwohl dieser jegliche Macht verloren hat?

Die Frage muss man anders angehen, um sie zu beantworten: Warum hat Hitler den Krieg überhaupt geführt? Das Sudetenland, Österreich und einige weitere Gebiete hat er ohne einen einzigen Schuss von den Mächtigen Europas erhalten. Doch Hitler will das Sudetenland nicht geschenkt bekommen. Er will kämpfen, er will den Krieg! Warum?

Für Hitler ist der Krieg der Weg zur Ausrottung der Juden zumindest in Europa, in Nordafrika und in der Levante. Das Ziel ist der Holocaust. Der Krieg gegen den Osten ist wichtig, da die meisten Juden in Polen, in Weißrussland und in der Ukraine leben. Zuerst Polen und dann dem verbündeten Russland werden der Krieg erklärt, hauptsächlich um dort ansässige Juden zu morden. Arischer Lebensraum sollte nicht so weit östlich entstehen, sondern hauptsächlich im Westen Polens. Rommels Afrikafeldzug soll der Wehrmacht mit SS ermöglichen, die Juden Nordafrikas bis zum britischen Mandatsgebiet Palästina töten. Palästina wird nicht erobert, da Rommel in Ägypten vernichtend geschlagen wird. Auch die westeuropäischen Juden leiden unter Hitlers militärischer Besatzung. Auch sie werden in Viehwagen der Reichsbahn in den Osten transportiert und dort bestialisch ermordet.

Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 werden die letzten Details zur Endlösung der Judenfrage festgelegt. Aus praktischen Gründen und um empfindsame Deutsche nicht zu verschrecken, wird beschlossen, die Juden im Osten Europas zu konzentrieren (KZ) und dort zu vernichten (Vernichtungslager). Der Holocaust oder Schoah, die Ermordung von 6 Millionen Juden, findet zum großen Teil in Vernichtungslagern statt, die sich hauptsächlich im Osten nahe jüdischer Siedlungsgebiete befinden. Als Hitlers Armee nach der Niederlage von Stalingrad sich Richtung Westen zurückzieht, läuft die Ermordung in den Vernichtungslagern nach Plan (Wannseekonferenz) weiter. Selbst Züge, die Soldaten der Reichswehr und kriegswichtige Güter transportieren, müssen auf Abstellgleisen warten, wenn ein Judentransport zu einem Vernichtungslager durchfährt. Judentransporte haben Vorfahrt! Denn der Krieg ist nur der Weg, das Ziel ist die Judenvernichtung.

Deshalb verlangt Hitler den sinnlosen Widerstand von deutschen Soldaten und Kindern im Hürtgenwald gegen die Alliierten. Auf beiden Seiten kommen 30.000 Menschen zu Tode, um die Ermordung von Juden im Osten zu ermöglichen. Die militärischen Abwehrmaßnahmen der Deutschen führen zu der von Hitler gewollten Kriegsverlängerung. Die beabsichtigte Konsequenz: In den Vernichtungslagern werden einige Monate länger Juden und andere Menschen gequält und vernichtet.

Dass auch Deutsche sterben müssen, um den Plan der Judenvernichtung zu verwirklichen, ist Hitler gleichgültig. Er liebt nicht die Deutschen – er hasst die Juden. Das ist der Grund, warum junge deutsche Soldaten bei der Verteidigung des Hürtgenwalds sterben müssen: Die Vernichtungslager müssen geschützt werden, die Endlösung der Judenfrage muss erreicht werden. Die Verteidigung des Hürtgenwalds ist militärisch sinnlos. Die deutschen Soldaten sterben, damit der Holocaust fortgesetzt werden kann. Die Judenvernichtungist das oberste Ziel der Nazis und nicht das Glück der Deutschen im tausendjährigen Reich. Die Unterwerfung der Slawen und der Lebensraum im Osten sind zweitrangige Ziele. Der Krieg, und ist er noch so schrecklich, ist nur der Weg.

Auch nach 75 Jahren blenden die Feierlichkeiten zum Andenken an die Schlacht im Hürtgenwald den wahren Grund der Schlacht im Hürtgenwald aus. Erst wenn der letzte Zeitzeuge das Zeitliche gesegnet haben wird, kann die Aufarbeitung der wahren Gründe beginnen.

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Über Nathan Warszawski 535 Artikel
Dr. Nathan Warszawski (geboren 1953) studierte Humanmedizin, Mathematik und Philosophie in Würzburg. Er arbeitet als Onkologe (Strahlentherapeut), gelegentlicher Schriftsteller und ehrenamtlicher jüdischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gesellschaft zu Aachen.